… widmet sich der Graphematik insofern, als das Schriftsystem des Deutschen überblicksartig betrachtet wird. Grapheme als kleinste unterscheidende Einheiten eines Schriftsystems werden dabei in spitzen Klammern geschrieben, z.B. <a>, und stellen die verschriftlichte Form eines Lautes dar (Fuhrhop/Peters 2013: 202). Einem Phonem /l/ wird so das Graphem <l> zugeordnet, etwa in leben oder kalt (Graphem-Phonem-Korrespondenz = GPK); die entgegengesetzte Blickrichtung (Phonem-Graphem-Korrespondenz = PGK) ist auch möglich, wenn danach gefragt wird, wie ein Graphem ausgesprochen werden kann, etwa <e> als /e/, /ə/, /ɛ/ in beten, Bett. Die Orthografie ist der Teilbereich der Graphematik, der als sprachliche Norm geregelt ist, im Fall des Deutschen durch das Amtliche Regelwerk des Rats für deutsche Rechtschreibung (AR 2018). Das „Amtliche Regelwerk“ liefert die rechtliche Grundlage für den Rechtschreibunterricht in der Schule.

… erscheinen Graphematik und Orthografie in jeder Jahrgangsstufe einer jeden Schulart im Kompetenzbereich „Sprachgebrauch und Sprache untersuchen und reflektieren“ doppelt: Erstens sollen Schüler:innen in der Grundschule sprachliche Strukturen in Wörtern, Sätzen und Texten untersuchen und verwenden, ab der Sekundarstufe I heißt es in allen Schularten „sprachliche Strukturen untersuchen und reflektieren“. Gerade die wechselseitigen Beziehungen zwischen Graphemen und Phonemen (GPK und PGK) eröffnen die Beschäftigung mit dem deutschen Schriftsystem. Beim Schreiben gesetzten Regeln zu entsprechen – das verbirgt sich zweitens hinter dem Teilbereich „richtig schreiben“, der den Rechtschreibunterricht terminologisch erfasst. Die Auseinandersetzung mit dem deutschen Schriftsystem ist dabei jedes Mal möglich, wenn der Kompetenzbereich „Lesen – mit Texten und weiteren Medien umgehen“ berührt wird und damit literarische oder pragmatische Texte behandelt werden.

… ist es, den Schüler:innen Einsicht in die Graphematik des Deutschen zu gewähren, um ihnen dabei zu helfen, Wörter korrekt schreiben zu können. Die orthografische Kompetenz der Schüler:innen wird jedes Mal gefordert, sobald sie Texte schreiben. Sie wenden dabei Schreibfertigkeiten an, zu denen es auch zählt, normgerecht zu schreiben. Dabei gibt das „Amtliche Regelwerk“ nicht immer alles vor, sondern eröffnet ganz im Gegenteil individuelle Schreibfreiheiten: Heißt es beispielsweise Orthografie? Oder Orthographie? Beides. Alternative Schreibweisen stehen im Wörterverzeichnis gleichberechtigt nebeneinander. Sie ergeben sich genauso bei der Kommasetzung. Deshalb muss die Lehrkraft darum wissen, welche Varianten existieren, um nicht etwas anzustreichen, was in Wahrheit möglich und damit ebenfalls korrekt ist.

… liegen in zahlreichen Eigenschaften und Eigenheiten des deutschen Schriftsystems. Vieles folgt dabei klaren Grundsätzen, die gar als Orthografieprinzipien gefasst werden können (etwa das phonografische Prinzip, silbische Prinzip, morphologische Prinzip). Die satzinterne Großschreibung von Substantiven stellt eine häufige Fehlerquelle bis in höchste Jahrgangsstufen dar (vgl. Pießnack/Schübel 2005: 56 oder Abel/Glaznieks 2017: 26). Dabei bietet der syntaxbasierte Ansatz gemäß dem „Treppengedicht“ nach Röber-Siekmeyer (1999: 120–126) schon sehr früh in der Schullaufbahn die Möglichkeit, den Kopf einer Nominalphrase durch die Erweiterungsprobe, Umstellprobe und Reduktionsprobe zu identifizieren und dann groß zu schreiben:

          der Bauer
          der kluge Bauer
          der kluge, fleißige Bauer
          der kluge, fleißige, große Bauer
          holt
          das Heu vor dem Schauer

Die Angst vor dem Kommagespenst – wann wo ein Komma (nicht) gesetzt werden kann oder muss – verfolgt nicht nur Schüler:innen, sondern geht auch in Universitäten und im Berufsalltag um. Für die vermeintlich schwierigen Kommaregeln des Deutschen setzt der Rechtschreib-Duden 33 Regeln an (D100–D132); dabei lassen sie sich nach Primus (ausgeführt in mehreren Publikationen, z.B. 2010: 35–40) auf drei reduzieren: das Komma bei Aufzählung, Herausstellung und Satzgrenze. Lindauer/Sutter (2005) liefern ein anschauliches Unterrichtsmodell, bei dem in Anlehnung an die Dependenzgrammatik von Tesnière die Kommasetzung in eine Rahmengeschichte mit Königen, Königreichen und Reichsgrenzen eingebettet wird.

… beschäftigen sich Aufgaben zur Graphematik immer wieder mit dem Phänomen der lautlich realisierten, schriftlich aber nicht umgesetzten Auslautverhärtung. Die Verlängerungsprobe : Kalb – KälberHund – HundeBerg – Berge (beispielsweise in der 2. Jahrgangsstufe der Grundschule, Brunold et al. 2014: 66; 6. Jahrgangsstufe der Mittelschule, Scharfe 2018: 234) macht aus einem Einsilber einen Zweisilber und setzt damit den für das Deutsche typischen Versfuß des Trochäus (Abfolge von betonter und unbetonter Silbe) (Eisenberg 2013: 31, 134–141) um. Damit der Wortstamm erhalten bleibt und die Wortformen somit als zusammengehörig erkennbar sind, wird Berg mit <g> geschrieben, auch wenn lautlich [bɛʀk] oder [beːɐ̯k] mit  [k] realisiert wird, das [g] im Auslaut seinen Stimmton verliert; im Zweisilber [ˈbɛʀ.gə] steht [g] im Silbenanfangsrand und entspricht damit seiner Schreibung mit <g>. Das Zusammenwirken von morphologischem Prinzip (Schemakonstanz durch Stammerhalt) und silbischem Prinzip (Berücksichtigung der Stellung eines Lautes in der Silbe) erklärt die Schreibung von Wörtern wie Tag – TageHaus – HäuserUrlaub – Urlaube.

… finden sich

  • … ein Interview zur Graphematik mit PD Dr. Wolfgang Schindler,
  • … eine Umfrage zur Wichtigkeit normgerechten Schreibens in der Gesellschaft,
  • … ein Überblick über die Orthografieprinzipien des Deutschen,
  • … Schulbuchbeispiele verschiedener Schularten zur Orthografie,
  • … ein Vergleich mehrerer Schriftsprachsysteme anhand eines Textauszugs aus Die Verwandlung von Franz Kafka in verschiedenen Sprachen (angelehnt an Fuhrhop/Müller/Szczepaniak (2019)).

Nachweise

Abel, A./Glaznieks, A. (2017): KoKo: Bildungssprache im Vergleich: korpusunterstützte Analyse der Sprachkompetenz bei Lernenden im deutschen Sprachraum – ein Ergebnisberichtwww.korpus-suedtirol.it/KoKo/Documents/Ergebnisse_Dokumentation_gesamt_FINAL.pdf, aufgerufen am 13. Dezember 2021.

Amtliches Regelwerk des Rats für deutsche Rechtschreibung [AR] (2018): Grundlagen der deutschen Rechtschreibunghttps://www.rechtschreibrat.com/regeln-und-woerterverzeichnis/, aufgerufen am 25. November 2021.

Brunold, F./Mansour, S./Meeh S. et al. (2014): Jo-Jo Sprachbuch. Grundschule Bayern. 2. Jahrgangsstufe. Berlin.

Duden: Sprachwissen, abrufbar unter https://www.duden.de/sprachwissen/rechtschreibregeln, aufgerufen am 25. November 2021.

Eisenberg, P. (2013): Grundriss der deutschen Grammatik. Bd. 1: Das Wort. Unter Mitarbeit von N. Fuhrhop. 4. Auflage. Stuttgart/Weimar.

Fuhrhop, N./Peters, J. (2013): Einführung in die Phonologie und Graphematik. Stuttgart/Weimar.

Fuhrhop, N./Müller, A./Szczepaniak, R. (2019): Schriftsprachen vergleichen. Die Leserfreundlichkeit des Deutschen. In: Praxis Deutsch 278, S. 50–58.

Lindauer, T./Sutter, E. (2005): Könige, Königreiche und Kommaregeln. Eine praxistaugliche Vereinfachung des Zugangs zur Kommasetzung. In: Praxis Deutsch 191, S. 28–35.

Pießnack, C./Schübel, A. (2005): Untersuchungen zur orthographischen Kompetenz von Abiturientinnen und Abiturienten im Land Brandenburg. In: Fachdidaktik. Potsdam. Hg. von Universität Potsdam (ZfL). Potsdam, S. 50–72.

Primus, B. (2010): Strukturelle Grundlagen des deutschen Schriftsystems. In: Schriftsystem und Schrifterwerb: linguistisch – didaktisch – empirisch. Hg. von U. Bredel, A. Müller und G. Hinney. Tübingen, S. 9–46.

Röber-Siekmeyer, C. (1999): Ein anderer Weg zur Groß- und Kleinschreibung. Leipzig/Stuttgart/Düsseldorf.

Scharfe, A. (Hg.) (2018): Doppel-Klick. Sprach- und Lesebuch Deutsch 6. Mittelschule Bayern. Berlin/München.


Empfehlung

Müller, A. (Hg.) (2021): Praxis Deutsch 288: Rechtschreiben üben.
Anhand mehrerer Beispiele wird gezeigt, wo Probleme beim Üben im Rechtschreibunterricht liegen und wie dagegen einsichtsvolles Üben mit den Prinzipien der Rechtschreibung möglich wird.